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  • Grischtin

Wohin wollen wir?


Gestern feierten wir einmal mehr das Leben und Dasein unserer Jüngsten mit grosser Dankbarkeit und Staunen.

Gleichzeitig schleichen sich in diesen Zeiten immer mal wieder düstere Gedanken in meinen Kopf: in welche Welt haben wir unsere Kinder gesetzt? Welcher Zukunft schreiten sie entgegen? Was werden sie noch frei entscheiden können, wo werden ihnen Dinge mehr oder weniger aufgebrummt werden?

Aber waren wir denn tatsächlich so frei, bevor diese Welle uns überrollt hat? Bevor es zu einer "neuen Normalität" geworden ist, dass NIEMAND einfach so ein Restaurant betreten, ins Museum gehen oder seinen Körper im Fitnessstudio strählen kann. Denn es braucht dieses Eintrittsticket - für alle! Und: dieses Ticket hat ein Ablaufdatum - ebenfalls bei allen. Das ist mir gestern im Gespräch mit unserem Geburi-Besuch bewusst geworden, der uns diesen Gedanken in Erinnerung gerufen hat. Wir laufen plötzlich ab, respektive unsere "Erlaubnis" am öffentlichen Leben teil zu nehmen, läuft ab. Einige werden jetzt wohl einwenden, dass diese Geschichte dann vorbei sein wird, wenn die meisten Codes ablaufen. Aber: bereits im Januar/Februar 2022 verfallen die Ersten. Und was dann? Diese Frage muss jede/r für sich selbst beantworten. Sicher aber können wir uns entscheiden, ob wir unsere Kinder/Grosskinder/Neffen/Grossneffen in diese "neue Normalität" hinein entlassen wollen. Vielleicht hat sich jetzt nur offenbart, wessen wir uns bis dato nicht bewusst waren: wir sind gar nicht so frei, wie wir dachten. Oder wie viele von uns hatten/haben keines dieser praktischen Lebens-Navigationsgeräte, die uns mit unserer Aussenwelt verbinden, unsere Gesundheit, unsere Finanzen, unsere Freizeitaktivitäten, unseren Beruf organisieren, überwachen und steuern? Insbesondere diese Geräte haben es technisch möglich gemacht, neue Pässe, neue Eintrittskarten des sozialen Lebens zu schaffen. Es geht mir hier nicht darum, den technischen Fortschritt zu verteufeln oder grundsätzlich abzulehnen, aber sicher lohnt es sich, uns darüber Gedanken zu machen, wie abhängig wir davon geworden sind. Oder geht jemand von euch noch ohne aus dem Haus? Es wäre, als fehle ein Teil von uns. Was ist, wenn mich jemand anrufen will, mit den Kindern etwas passiert, ich im Stau stecken bleibe oder der Zug Verspätung hat? Ehm, ja, wie war das denn eigentlich vor ca. 20 Jahren? Damals, als der treue Lebensbegleiter noch mit aufstehenden Tasten versehen war und nicht viel mehr konnte, als theoretisch den Gang zur nächsten Telefonkabine zu ersparen, um der Freundin mitzuteilen, dass der Zug Verspätung hatte, man diesen Gang jedoch wegen der horrenden mobilen Anrufkosten dennoch unter die Füsse nahm. Waren wir unglücklicher? Hat uns etwas gefehlt?

Mich selbst bezeichne ich definitiv als Smartphone-Junkie. Nein, ich schaffe es nicht mehr, ohne aus dem Haus oder aufs WC zu gehen, nicht danach zu greifen, wenn grad die Teigwaren kochen oder ich Ilana zuschaue, wie sie die Strasse runter pfeifend der Schule entgegenhüpft. Somit führe ich mir 10 Stunden am Tag die Welt vor Augen, die Angst, die Sorgen, die Todes-, Fall- und Inzidenzzahlen, die beleidigenden Aussagen über Aluhutträger, Schwurbler, Covidioten, Polizisten, Politiker- und Politikerinnen, sowie die erleuchtende Neuigkeit, dass Prinz Charles oft eine auffällig rote Gesichtsfarbe bei seinen Auftritten hat. And so what?

Da ist es eine wohltuende Erfahrung, dass aufgrund einer freiwillig gefällten, persönlichen Entscheidung mir für einmal das "Streichelhandy" nicht aus der Patsche helfen kann, sondern ich auf die Mitmenschlichkeit und das Mitgefühl meiner Mitmenschen angewiesen bin. So etwa geschehen, als Matthieu und ich zur Feier unseres 15-jährigen (wie wunderbar!!) Hochzeitstages durch die Hügel der Ostschweiz gepilgert sind. Völlig durchnässt und frierend erreichten wir auf 1200 m Höhe, nach 800 m Aufstieg im Regen, die rettende Skihütte, die im Sommer netterweise als Restaurant betrieben wird. Leider wurde eine Woche zuvor die Zertifikatspflicht für Restaurants eingeführt, so dass uns als Erstes ein unübersehbares Plakat entgegenleuchtete und unsere Hoffnung auf eine wärmende Stube vorerst zerstörte. Der besorgten Wirtin versicherten wir, dass es kein Problem für uns sei, draussen zu bleiben. Leider trugen wir auch kein Bargeld auf uns. Schliesslich meinte ihr Mann, sie könnten uns eine spendierte Suppe rausbringen, was für uns bereits einer paradiesischen Vorstellung gleichkam. Richtig paradiesisch wurde es, als der Wirt im Türrahmen stehen blieb und meinte: "Äh, chömet ine! Es isch ja gar niemer da." Diese würzig warme Minestrone am offenen Kaminfeuer wird uns ewig in Erinnerung bleiben. Hier siegte Mitgefühl und ein unserer Ansicht nach gesunder Menschenverstand über eine zumindest rechtstheoretisch hinterfragbare Verordnung.

Genau diese Welt ist es, die ich unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen möchte. Sich bewusst zu sein, dass wir alle nicht ganz so frei sind, wie wir denken und uns darum zu bemühen, die Verantwortung für unser Tun und Handeln nicht anderen zu delegieren, sondern unser Herz, unseren Verstand und unser Mitgefühl sprechen zu lassen, wobei wir durchaus nicht zu denselben Resultaten kommen müssen. In der Schweiz sind wir in der glücklichen Lage, dass wir damit sogar Einfluss auf politische Entscheide nehmen können. Darüber hinaus zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es genau diese Eigenschaften waren, die Menschen dazu verlasst haben, andere zu schützen, zu verstecken oder sich lautstark für Benachteiligte einzusetzen, auch wenn sie damit ihren eigenen Tod in Kauf genommen haben. Im Vergleich dazu bewegen wir uns nach wie vor in einer gemütlichen Komfortzone, aber mich dünkt, wir würden das Erbe dieser Menschen mit Füssen treten, wenn wir ihre Errungenschaften mir nichts dir nichts aus der Hand geben und einer "neuen Normalität" opfern. Bleiben wir also wachsam, denkend, fühlend, mitfühlend, streitend, geniessend und immer wieder mal analog, direkt, konkret. Zurück können und wollen wir nicht mehr, aber der Blick zurück hilft uns womöglich, die Stolpersteine vergangener Zeiten zu erkennen und nicht zwingend zu wiederholen.

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