- Grischtin
Gemeinsam einsam
Aktualisiert: 14. Sept. 2020

Oder eben zum Glück nicht einsam, im Vergleich zu ganz Vielen im Moment!
Schreiben scheint mir immer dann besonders unter den Nägeln zu brennen, wenn es in der Seele, im Herz drückt und zieppt und sich keine wirkliche Ruhe einstellen will. Obwohl, Ruhe, das haben wir ja alle genügend - aber aufgedrückt.
So sitze ich draussen, in dieser wunderbaren April-Sonne in meinem "Philosophen-Stuhl" und beschäftige mich sogar mit philosophischen Texten. Die Kinder spielen, die Vögel zwitschern, Idylle - was will man mehr?
Doch sobald ich meine Insel hier oben verlasse, schlägt mir die Realität unbarmherzig ins Gesicht - leere Strassen, kein Kinderlärm zu hören, abgesperrte Fussballrasenplätze in den Wohngebieten, das rote Plakat vor dem Lidl. Handschuhe, Desinfektionsmittel, Abstandslinien, Menschen mit zusammengepressten Lippen, Menschen, die neben mir stehen, wartend, bis ich endlich kapiere, dass ich vorbei gehen muss. Aber hat das der Bundesrat auch verodnet? Dass wir nicht mehr miteinander sprechen dürfen? Dass man sich nicht mehr grüsst? Dass man Menschen, die sichtbar über 70 Jahre alt sind und sich in den Lidl "verirrt" haben, vorwurfsvoll anblickt? Nein, davon war nicht die Rede. Einfach nur Abstand halten, in die Ellbeuge niesen, Hände waschen ... ja ja, ich weiss, wir kennen es unterdessen auswendig.
Zudem fällt mir auf, wie Gesichter "aufgehen", wenn sie angelächelt werden und statt einem Abwenden ein "Grüessech mitenand" entgegenkommt. Dieses letzte Stück Menschlichkeit will ich mir bewahren. Sollten wir uns alle bewahren - das hat nichts damit zu tun, unverantwortungslos zu handeln oder "wegen dir sterben Menschen".
Dieser Tsunami, von dem alle reden, habe ich das Gefühl, wird erst nachher kommen - die Welle ist sich erst am zurück ziehen und mir scheint, sie wird nicht in Form von noch mehr Infizierten über uns hereinbrechen, sondern sich in den Auswirkungen innerhalb der Gesellschaft zeigen. Wann werden wir uns überwinden, uns wieder zu umarmen, sobald wir das wieder dürfen? Nicht mehr in jeder/m einen potentiell Infizierten zu sehen? Wie lange wird es dauern, bis wir aus unserer Starre erwachen?
Gerade zu Beginn dieser Lockdown - Verordnung spürte ich in mir auch dieses Katastrophenszenario aufsteigen und habe mich sogleich bei meiner alten Chefin gemeldet - schliesslich bin ich ja vom medizinischen Fach und so hat sich natürlich sofort mein Helfersyndrom reaktiviert. Ärmel hochkrempeln, jetzt sagen wir diesem Virus den Kampf an und dann werde ich erst noch zu denen gehören, die an forderster Front kämpfen. Das fühlte sich irgendwie sogar gut an.
Das war vor drei Wochen. Die Anfrage um Hilfe ist bis jetzt ausgeblieben und plötzlich lese ich von Spitälern, die Kurzarbeit anmelden müssen. Plötzlich werden Menschen wieder dazu aufgefordert, unbedingt den Arzt aufzusuchen, wenn sie sich krank fühlen, auch ohne Corona-Symptome. Plötzlich höre ich davon, dass sich alte Menschen bei Nachbarschaftshilfeprojekten melden, um wieder einmal mit jemandem sprechen zu können. Plötzlich werden Kinder nicht mehr raus gelassen, aus Angst vor dem Virus. Das fühlt sich nicht gut an. Und hier denke ich, rollt der Tsunami langsam auf uns zu.
Ist/war das wirklich nötig? Diese Frage treibt mich um. "Du wirst die Wahrheit nicht finden, es macht dich nur fertig." Aber macht die Wahrheit uns nicht frei?
Wahrscheinlich gibt es zur Zeit nicht viele Auswege und tatsächlich mehr Fragen als Antworten. Und doch will ich mich in den nächsten Wochen darum bemühen, die Menschlichkeit zu bewahren und im gebotenen Abstand zu lächeln, zu grüssen, freundlich einladend zu sein. Neben mir steht nicht "potenziell Infiziert Nr. 30'987 oder Nr. 557'987" oder "Herr/Frau Achtung gefährlich" sondern Frau Sommer, Herr Müller, Frau Okubamichael und Herr Abdullah, die vielleicht gerade ihren Opa oder ihre Oma an das Virus verloren hat, der Single ist und sich so sehr nach einem Gespräch sehnt, deren Lebenswerk gerade geschlossen worden ist oder der vor Sorgen nicht mehr aus noch ein weiss, weil seine Angehörigen in Afrika gerade in der Quarantäne verhungern.
Anteilnahme geht auch mit zwei Metern Abstand, über den Gartenzaun, Balkon hinweg, am Telefon und ein nettes Wort kann auch der beste Mundschutz nicht aufhalten.
Wie sagt es Antoine so schön: "On ne voit bien qu'avec le coeur, l'essentiel est invisible pour les yeux."